Rassebericht Weiße Wiener

Michael Schlaphof, Kaninchenzüchterverein U 52 Neumünster

Rein weiße Kaninchenrassen waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch eine Seltenheit. Weder die Seidenhasen, später als Angorakaninchen bezeichnet, noch das Polnische Kaninchen, später als Hermelinkaninchen bekannt, hatten sich bis dahin wirklich durchgesetzt. Hier und da gab es weiße, ebenfalls rotäugige Einzeltiere in den zahlreichen rasselosen Beständen. Doch solche weißen, albinotischen Kaninchen sind nicht jedermanns/fraus Sache. Außerdem sind Albinos lichtempfindlich und weniger robust als andere Rassen. Schon damals wusste man, dass Sie beispielsweise Operationen weniger gut überstehen.

Französische, englische und deutsche Züchter bemühten sich schon ab den 1880er Jahren um die Herauszüchtung weißer Kaninchen mit anderen als roten Augen. Durch fortgesetzte Auslese und Zuhilfenahme der Linienzucht versuchte man, indem immer Schecken, also Tiere mit weißen Fellpartien, bevorzugt wurden, welche immer weniger pigmentierte Anteile besaßen, rein weiße Tiere zu erhalten. So entstanden tatsächlich nahezu komplett weiße Kaninchenrassen mit blauer bzw. brauner Iris; doch geringe farbige Fellpartien, besonders um die Augen herum und/oder im Bereich der Blume blieben hartnäckig erhalten. Auf diese Weise bildeten sich Rassen heraus wie das Blanc de Hotot in Frankreich, welches zeitweise sogar als Wirtschaftsrasse galt, sowie das Husumer Blauauge, das aber noch vor dem 2. Weltkrieg wieder ausstarb.


Denselben Weg der Auslese immer der am wenigsten pigmentierten Tiere beschritt auch ein Züchter blau-weißer Holländer in Prinzendorf bei Wien: Der Bahnbeamte Wilhelm Mucke, zeitgenössische Autoren schrieben auch Mucki, Muki oder Muke. Da rein gezüchtete blaue und blau-weiße Kaninchen nicht nur ihre Fellfarbe, sondern auch die blaue Iris rein weiter vererben, glaubten Mucke und mit ihm die Fachwelt, er hätte sein Ziel mithilfe der Verdrängungszucht erreicht, als nach 5 Jahren (nach anderen Quellen 15 Jahren ) Anfang 1907 endlich komplett weiße Tiere mit blauen Augen in den Nestern lagen. Erst rund 20 Jahre später stellten zuerst der Doktorand Pap, dann Prof. Nachtsheim und weitere Wissenschaftler fest, dass es sich bei dieser neuen Rasse um eine Form der Mutation handelt, welche mit dem Holländer genetisch nichts weiter zu tun hat – ein Zufallsprodukt. Wien war 1907 eine Weltstadt, Hauptstadt einer Großmacht. Hier wurden die Weißen Wiener ausgestellt und waren sofort die Sensation!

Kuriose Parallele: Nur ein paar Jahre vorher stellte ebenfalls ein Bahnbeamter die „Blauen Wiener” erstmals aus, Constantin Schultz aus Wien-Hetzendorf. Auch sein Name erschien in Variationen: Joseph R. Schultz, Johann Konstantin und weitere. Schon die Blauen waren eine Sensation und 1907 längst etabliert.

Schnell machten die Weißen Wiener Fortschritte in Qualität und Quantität, schon 1908 gingen Zuchttiere in die Schweiz, 1910 erhielten deutsche Züchter Weiße Wiener und auch sie stellten noch in jenem Jahr Tiere zur Schau. Der in Züchterkreisen außerordentlich beliebte Ratgeber „Starkes Praktische Kaninchenzucht“ erschien 1910 in fünfter Ausgabe und enthielt bereits Weiße Wiener als kommende Kaninchenrasse. Ein erstes Büchlein über die neue Rasse erschien 1912 in Poppes Bibliothek für Kaninchenzüchter, der Autor Ernst Ordel aus Tangermünde gehörte zu den ersten Importeuren der Weißen Wiener. Die Züchter der Blauen Wiener nahmen die ihnen erwachsende Konkurrenz mit Wohlwollen. Der bekannte Züchter J. Heintz schrieb 1912 in der 3. Auflage des Buches „Das Blaue Wiener Kaninchen“ einen kleinen entsprechenden Zusatz.


Der 1.Weltkrieg von 1914-18 konnte den weiteren Aufstieg der Weißen Wiener nicht aufhalten. Max Wischer, bekannter Züchter und Funktionär seiner Zeit, regte anlässlich einer Tagung im Jahr 1926 die Herausstellung besonders wirtschaftlicher Kaninchenrassen an. Dieser Vorschlag wurde 1930 vom Sonderausschuß der Deutschen Landwirtschaftlichen Gesellschaft, kurz DLG, umgesetzt. Nach heutiger Zählweise wurden neun Rassen zu Wirtschaftsrassen erklärt und besonders gefördert. Die Weißen Wiener gehörten dazu.

Ab den „goldenen Zwanzigern” wurden die Weißen Wiener oft zusammen mit weiteren normalhaarigen Kaninchenrassen in einem Atemzug mit Edelpelztieren genannt. Heute unvorstellbar, die gesamte Rauchwarenindustrie boomte. Interessierte Kaninchenzüchter hatten die Auswahl aus 20 und mehr Fachzeitschriften rund um die Themen Tierzucht, Landwirtschaft, Pelzmode, Kürschnerei, Wissenschaft, Forschung, Tiermedizin, Fleischverwertung und vieles mehr. Allein der Bund Deutscher Kaninchenzüchter nannte um 1930 ein halbes Dutzend offizielle Mitteilungsorgane.

Prof. Dr. Hans Nachtsheim bevorzugte ebenfalls die Tierart Kaninchen für seine umfangreichen Forschungen, deren Ergebnisse teilweise noch heute aktuell sind. Untrennbar ist sein Name mit den Rexkaninchen verbunden, aber auch das
Chinchillakaninchen, das Widderkaninchen, das Marderkaninchen und auch ganz besonders das Weiße Wienerkaninchen riefen sein Interesse hervor. Alle diese Rassen waren zu jener Zeit von besonderem wirtschaftlichen Wert, ihr Aussehen beruhte zudem jeweils auf einer Mutation.

Einige Beispiele vorliegender Literatur mit Bezug zum Weißen Wiener:

  • 1930 Untersuchungen über multiplen Allelomorphismus beim Kaninchen
  • 1932 Leuzismus und Scheckung
  • 1933 Die genetischen Beziehungen zwischen Körperfarbe und Augenfarbe beim Kaninchen

Über die Epilepsie, welche insbesondere beim Weißen Wiener gehäuft auftrat, hat Nachtsheim unzählige Forschungsergebnisse veröffentlicht.


Unterdessen wuchs die Zahl der Weiße-Wiener- Züchter weiter an und damit die Qualität. Bald wurde es nach einer ebenfalls weißen leistungsstarken Hühnerrasse zum „Leghorn“ der Kaninchenrassen ernannt. Der 1930 geborene spätere Bundeskanzler Helmut Kohl züchtete während seiner Kindheit allerlei Kleinvieh, darunter auch Geflügel und Seidenraupen,
um sein Taschengeld aufzubessern. Doch seine Vorliebe „galt der Hasenzucht – Blaue und Weiße Wiener”. Nach dem 2.Weltkrieg und den „Wirtschaftswunderjahren“ ging die Kaninchenzucht – und haltung stark zurück, um dann zwischenzeitlich wieder zuzunehmen. Seitdem ist wiederum ein Rückgang um jährlich etwa 3-5% zu verzeichnen.
Heute hat das Weiße Wienerkaninchen seinen Spitzenplatz eingebüßt, doch mit rund 340 Zuchtbetrieben und 6200 aufgezogenen Jungtieren im Jahr 2020 ist es immer noch im oberen Mittelfeld vertreten.