Ein Beitrag von Dr. Gertrud Rossi
[Fachbegriffe werden am Ende des Artikels erläutert.]
Eine neue Krankheit hat sich in europäischen Kaninchenbeständen ausgebreitet: die Enterocolitis. Sie ist deshalb so bedeutsam, weil sie einerseits mit massiven Verlusten einhergeht, andererseits aber bisher keine wirkungsvollen Bekämpfungsmaßnahmen bekannt sind.
Die im westeuropäischen Raum als dauerhafte und verlustreiche Darmerkrankung der Jungkaninchen bekannte Enterocolitis stellt in Bezug auf klinischen Verlauf und pathologische Anatomie eine einheitliche Erkrankung dar. Trotzdem sind die mikrobiologischen Befunde von Fall zu Fall unterschiedlich und ebenso vielfältig wie vor Ausbruch der Enterocolitis. Nur verlaufen die im Bestand üblichen Krankheiten, z.B. Pasteurellose, schwerer als vorher und es können bis zu zwölf Erreger pro Tier isoliert werden. Dieses Verhalten läßt vermuten, daß es folgende vier "schuldige" Gruppen gibt: Sekundärinfektionen, Auslöser, Erreger und Verursacher.
Während die Sekundärinfektionen und Haupterreger eindeutig die Mikrobiologie angehen, könnten die Auslöser und Verursacher auch in anderen Bereichen wie Klima, Schadstoffe, Behandlungen und Fütterung zu finden sein. Alles, was uns an Daten zur Verfügung steht, um die isolierten Erreger einer der o.g. vier Gruppen zuzuordnen, sind Statistiken, Therapieerfolge in Mastbetrieben sowie einzelne Infektions- und Behandlungsversuche.
Institute in der Nähe der Großbetriebe im Westen und Süden Europas sind der Auffassung, daß die Enterocolitis eine sich einheitlich ausbreitende Krankheit ist. Sie unterscheidet sich von der üblichen Dysenterie durch:
Schon kurz vor einem Enterocolitisausbruch konnte in einigen Beständen eine besondere schwer verlaufende Pasteurellose diagnostiziert werden, deren pathologisches Bild, nämlich Stauleber und -lunge sowie Blutungen in Brust- und Bauchhöhle an das Bild der RHD (Rabbit Haemorrhagic Disease) erinnerten. Auch im Verlauf der Enterocolitis traten Formen von hämorrhagischer Diathese ohne Virusbeteiligung, gekennzeichnet durch Blutungen in Brust- und Bauchhöhle, zusammen mit mukoider Enteritis bei älteren Masttieren und Junghäsinnen auf. Da hierbei nicht immer Pasteurellen isoliert wurden, zog man auch einen Darmerreger mit stark permeabilisierendem Toxin in Erwägung. Bei Absetzern überwogen dagegen die Darmsymptome, wobei in manchen Beständen die meisten Tiere mit Durchfall (erstes Stadium), in anderen Beständen mehr mit mukoider Enteritis und Verstopfung (zweites und drittes Stadium) verendeten. Histologische Befunde waren vornehmlich Verlust des Darmspithals, Ödem der Darmwand sowie nekrotisierende Enteristis, während Bakterienadhäsion bei weniger als 50 % der Tiere festgestellt wurde.
Das Erregerspektrum erwies sich in unseren Beständen konform mit dem der Befunde in norditalienischen Instituten. Wir verzeichneten schwere akute Ausbrüche in den Herbst- und Wintermonaten (August bis Februar). Hier wurden pathogene E.coli-Serotypen (O 109, O 128, O 132, seltener O 103) isoliert. Mehrere Clostridienarten traten auf. Am häufigsten C. spiroforme, in Norditalien auch Otertium. Rotaviren wurden unterschiedlich häufig dargestellt, in den meisten Instituten wurden sie bei ca. 20 % der Tiere ermittelt.
Leichtere Ausbrüche wurden im Frühjahr beobachtet mit Closristidien-Mischkulturen, wobei C.spiroforme, C.sardelli, C.pertrigens Typ A und C.piliformis diagnostiziert wurden. Bei schweren Darmkokzidiosen wurde oft C.perfingens Typ A ermittelt. E.coli-Serorypen, die im Sommer isoliert wurden, wurden meistens als "unspezifisch" bezeichnet.
Die Frage nach dem Haupterreger der Enterocolitis gestaltet sich schwierig. Nekrotisierende Enteritis kann von fast allen Clostridientoxinen verursacht werden. Die Rolle des C.spiroforme-Toxins, die der Permeabilisierung der Blutgefäße und der Darmlähnung wurde schon in den 80er Jahren experimentiell dargestellt. Das Toxin, welches 80 % Homologie zu dem Jota-Toxin und C.Pertrigens Typ E besitzt, inhibiert die Polymerisation des Zytosklett- und Muskelactins. Es beeinträchtigt die Wanderung der Oranulozyten und sicher auch die Phagozytose, wodurch eine Abwehrschwäche entsteht. Bei der Permeabilisierung der Blutgefäße muß aber auch an Enotoxine gedacht werden. Statistische Auswertungen von Befunden (M. zardus, Mailand 1998), deuten darauf hin, daß die Koloniebildung von C.spiroforme und Anwesenheit virulenter E.coli-Serotypen bei schweren Ausbrüchen eine Rolle spielen.
Es wird vielfach argumentiert, daß vor den bakteriellen Erregern eine Ursache existiert, die irgendwie grundsätzlich mit der Fütterung und den Farmbedingungen zu tun hat. Was ist daran? Im Futter gibt man zur Zeit den zu fein gemahlenen Luzernen die Schuld. Jedoch finden wir im kranken Darm wohlstrukturierte Heusplitter vollig unverdaut. Die Unfähigkeit, dieses Futter abzubauen, und das Überangebot an Nährstoffen für die Cloristidien kommt wohl daher, daß promolytische Enterobakterien (E.coli, Proteus sp.) den Dünndarn derart alkalinisieren, daß Darm- und Pankreaseenzyme ihre Abbautätigkeit nicht ausüben können. Sicher wird durch Zufütterung von Heu die celuloseabbauende Normalflora des Damres aktiviert, auch bringt dieses im Krankheitsfall nur eine Erleichterung, keine Heilung.
Aufbau und Mikroklima sind zu unterschiedlich, um hierin Ursachen zu suchen. Ein Punkt scheint uns jedoch von Bedeutung zu sein. Der intensive Produktionsrhytmus (33 Tage-Rhythmus) setzt die Häsin kontinuierlich einer Doppelbelastung aus: Laktation und Trächtigkeit. Einer dritten Proteinbiosyntheseleitung, die sehr wichtig wäre, nämlich die Bildung von Antikörpern, kann sie nur sehr unbefriedigend nachkommen. Ihr Kolostrum ist also minderwertig, die Nestlinge infizieren sich viel früher als bei einer Häsin mit einem guten Immunstatus. Dadurch verlaufen alle Krankheiten schwerer. Daß die Enterocolitis eine infektiöse Krankheit darstellt, deht aus folgenden Versuchen hervor:
1. Es gelang an der Universität in Genf, gesunde Tiergruppen mit dem Darminhalt kranker Tiere zu infizieren.
2. Durch Einsetzen kranker Tiere in einen Wurf eines Kleinbestandes wurden der Wurf selbst und die angrenzenden Gruppen infiziert und erkrankten mit den typischen Symptomen. Trotz Mischfütterun besteht die Enterocolitis im Bestand fort.
Da wir inzwischen Material aus mehreren Hobbybeständen mit Enterocolitis erhalten haben und sich die bakteriologischen Befunde trotz Mischfütterung nicht von denen der Großbeständen unterscheiden, meinen wir, daß die Fütterung nicht die Ursache ist. Allerdings haben die erkrankten Tiere einen erhöhten Rohfaser- und Frischfutterbedarf. Kommt also der einseitigen Fütterung eine Auslöserrolle zu? Im Hobbybestand müssen die an Enterocolitis erkrankten Tiere - ebenso wie im Mastbestand - mit Antibiotika therapiert werden. Die Frisch- und Faserkost hilft bei der Stabilisierung des Tieres, aber sie heilt nicht.
Bei den Therapieversuchen im Mastbetrieb wurden zwei Fragen aufgeworfen:
1. Wer ist Haupterreger und welches sind erschwerende und Sekundärinfektionen?
2. Steckt hinter den therapierbaren Erregern noch ein Verursacher? Dieser würde bewirken, daß die Kranheit ständig wieder aufflammt, daß die Tiere durch die Therapie nur stabilisiert, aber nicht gesund werden. Rückfälle sind in der Tat relativ häufig.
Die Therapieversuche sollten "das Pferd von hinten aufzäumen". Sekundäre und erschwerende Infektionen sind solche, deren gezielte Behandlung nicht zum Stillstand der Krankheit führt. Dies gilt für Pasteurellosen und Kokzidiosen. E.coli wurde mit Spectinomycin unterdrückt. Der Krankheitsverlauf in einem Mastbetrieb mit akuter Enterocolitis wies nach dem ersten und zweiten Therapiedurchgang eine Reduktion der Sterblichkeit von 70 auf 20 % für eine Dauer von zehn Tagen auf. Der dritte Durchgang blieb ohne Erfolg. Unter Versuchbedingungen wurde bei diesen Absetzern der Durchfall mit dem Medikament "Spectam" gebremst, jedoch konnte die Darmlähmung nicht rückgängig gemacht werden, so entwickelte sich innerhalb einer Woche das dritte Stadium der Krankheit mit verhärtetem Blinddarm. E.coli-Serotypen, die als Virulenzfaktoren Adhäsine und zytosklettbündelnde Proteine benutzen, erschweren die Enterocolitis so dramatisch, daß die Tiere zumeist im ersten und oft im zweiten Stadium verenden und das dritte Stadium gar nicht ausgebildet wird.
In den westeuropäischen Ländern konnten die Betriebe schließlich durch die Verabreichung von Zinkbacitracin (150 bis 200 ppm) vom 20. bis zum 40. Lebenstag stabilisiert werden. Im Hobbybetrieb reicht die Verabreichung von Zinkbacitracin über das Trinkwasser für fünf Tage, um einen aktuellen Ausbruch zu beenden. Diese Therapieerfolge weisen darauf hin, daß der Haupterreger in der Spezies Clostridium zu suchen ist.
Im Augenblick ergibt sich die Frage, womit diese Bakterien in Zukunft bekämpft werden sollen. Insbesondere vor dem Hintergrund, daß uns nach der in früheren Zeiten angewandten Nalidixinsäure, die gegen E.coli und Cloristidien wirkte, auch das Zikbacitracin gestrichen wird. Kurz- und mittelfristig müssen alternative Wirkstoffe erprobt werden. Vor allem plädieren wir für den Einsatz von heilspezifischer Impfstoffe und - sobald der Stand der Wissenschaft es erlaubt - die Entwicklung eines (vielleicht kombinierten) Toxoidvakzine. Die Funktion, die Wirkmechanismen und die Kontrolle der an der Enterocolitis beteiligten Erreger sollten in einem europäischen Team koordiniert untersucht werden.
Mukoider Enteritis = Schleimverstopfung im Dickdarm
Stauleber und -lunge = starker Blutstau in Leber und Lunge
Diathese = verstärkte Neigung / erhöhte Anfälligkeit
permeabilisierendes Toxin = Gift, das die Blutgefäße durchlässig macht
Ödem = wässrige Verdickung
Bakterienadhäsion = Bakterien, in diesem Fall Coli-Bakterien, "kleben" auf der Darmwand fest
Granulozyten = weiße Blutkörperchen für die unspezifische Abwehr
Phagozytose = "Fressen" von Bakterien
Spectinomycin = Wirkstoff des Medikaments Spectam
Toxoidvakzine = aus einemToxin (Gift) gewonnener Impfstoff